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Anna war zehn und klein für ihr Alter. Sie hatte hübsches langes Haar und ein paar Sommersprossen im Gesicht. Anna ging in die 4. Klasse und liebte Bücher. Sie war sehr intelligent und hatte eine blühende Fantasie. Sie ging gerne zu Schule und alberte wie jedes 10-jährige Mädchen gerne auf dem Heimweg mit ihren besten Freundinnen herum. Doch am liebsten kuschelt sie sich zu Hause auf ihr Sofa und laß ihre Bücher.

Anna hatte einen großen Bruder. Er war schon 22 Jahre alt und hieß Bastian. Bastians Vater hatte Annas Mama vor 12 Jahren kennengelernt. Einige Jahre zuvor war Bastians Mutter gestorben. Ihr Vater und ihr Bruder Bastian hatten es damals eine Zeit lang sehr schwer, doch dann… Bastian hatte der kleinen Anna schon duzenden Male die wundervolle Geschichte erzählt, die ihm damals zugestoßen war und alles im Leben von Bastian und seinem Vater verändert hatte. Anna hatte nicht geringsten Zweifel daran, dass die Geschichte stimmte, doch komischerweise reagierten ihre Freunde und vor allem Erwachsene immer etwas seltsam, wenn diese Geschichte erwähnt wurde.

Überhaupt war Anna aufgefallen, dass ihre Eltern nicht sehr viele enge Bekanntschaften hatten und ihre Familie unter den Nachbarn als „irgendwie eigenartig“ galt. Ihr selbst war das egal, doch sie merkte, dass es ihren Eltern schon etwas ausmachte. Sie machten sich oft Gedanken darüber, was andere wohl über sie denken würden, andererseits wussten sie, dass sie einen unglaublich wertvollen, leise glitzernden Schatz besaßen und diesen würden sie sich um nichts in der Welt nehmen lassen:  Sie hatten erleben dürfen, was es bedeutet, wirklich zu lieben.

Anna verstand das oft nicht so ganz. Wie konnte man sowas denn komisch oder eigenartig finden? Wenn sie ihren großen Bruder Bastian danach fragte, sagte er nur: „Eines Tages wirst Du das verstehen, kleine Schwester.“ Lächelte und ging.

In solchen Momente mochte Anna ihren großen Bruder gar nicht. Als ob das so ein großes Geheimnis sein konnte. Warum sollte sie das jetzt noch nicht verstehen können?

Doch alles war wieder gut, wenn ihr großer Bruder zu Besuch über Nacht blieb, sich an ihr himmelblaues Bett setzte und ihr vorm Einschlafen eine seiner großartigen und abenteuerlichen Geschichten erzählte, die er erlebt hatte.

So wie heute Abend. Bastian war noch nicht ganz am Ende ihrer Lieblingsgeschichte angekommen. Er erzählte gerade davon, wie er nach seiner abenteuerlichen Reise, fast am Ende seiner Kräfte, in diesen wunderschönen, blühenden Sommergarten mit den vielen vollbeladenen Obstbäumen kam… als er Annas schwerer werdenden Atem hörte. Sie schlief.

Er blieb noch einen Moment neben ihrem Bett sitzen, beobachtete die Schatten, die das Licht des Mondes und der sanft im Wind raschelnde Baum vor dem Fenster verursachten. Der Mond weckte immer eine verheißungsvolle Sehnsucht in ihm. Leise drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn, flüsterte „Schlaf gut, kleine Anna“, schaltete das Licht aus und ging aus dem Zimmer. Was er in diesem Moment nicht ahnte war, dass er und Anna sich für eine schier unendliche Zeit nicht mehr sehen würden.

 


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