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„Bin ich tot?“

„Nein.“

„Bastian?“

„Ja.“

„Wo sind wir?“

„An der Grenze Phantasiens.“

„Aber… sagtest Du nicht immer, Phantasien hat keine Grenzen?“

„Es hat Grenzen, Anna. Aber sie sind nicht im Außen, sondern im Innen.“

„Warum bin ich hier Bastian?“

Bastian antwortet nicht.

Anna spürt, wie sie im Raum schwebt. Sie fühlt sich eigenartig schwer und leicht zugleich. Um sie herum herrscht völlige Dunkelheit. Und es ist kalt. Sehr kalt. Die Stimme ihres Bruders scheint aus dem Dunkel vor ihr zu kommen, doch sie kann nichts erkennen, so sehr ihre Augen auch versuchen, das sie umringende Schwarz zu durchdringen.

„Bastian? Bist Du noch da?“ Anna bekommt Angst. Sie fühlt sich plötzlich so verloren und einsam. Und die Kälte scheint ihr langsam, aber unaufhaltbar, in die Gliedmaßen zu kriechen.

„Ja Anna. Aber ich kann Dir jetzt nicht alle Fragen beantworten. Wir müssen uns beeilen. Du musst Dich entscheiden! Jetzt.“

„Was muss ich entscheiden, Bastian?“ Anna spürt, wie die Kälte sie immer mehr durchdringt und langsam schleicht sich Panik wie eine langsam zudrückende Hand in ihr Herz.

„Du hast mich so oft gesehen, Anna. Aber Du bist nie gekommen. Dies ist die letzte Chance.“

Anna setzt überrascht und leicht vorwurfsvoll an: „Was? Ich soll Dich gesehen…“ Aber sie hält mitten im Satz inne. Sie weiß plötzlich, was Bastian meint. Sie hatte es all die Jahre für Einbildung gehalten. Sie hatte es für eine dumme Projektion gehalten, die ihr Gehirn aus dem Trauma des Verlustes ihres Bruders heraus verursachte.

Ja, jetzt fällt es ihr wieder ein. Zum Beispiel dieser Moment vor einigen Jahren im Supermarkt. Plötzlich sah sie am anderes Ende des Regals, ca. 10 m entfernt, ihren Bruder stehen. Doch nur ein Augenzwinkern später sah sie, dass es gar nicht ihr Bruder gewesen war, sondern nur ein anderer, ihm ähnlich sehender, junger Mann.

Oder der Moment, als sie an ihrem 18. Geburtstag auf ihrer Geburtstagstorte die Kerzen ausblies. Es waren damals wirklich 18 Kerzen gewesen und sie musste ein paar Mal tief Luft holen, um sie alle ausblasen zu können. Ganz kurz wurde ihr dabei schwindelig und als sie aufsah, sah sie für den Bruchteil einer Sekunde Bastians verzweifeltes Gesicht in dem aufsteigenden Kerzenrauch. Dann klatschten alle Geburtstagsgäste Beifall, der Rauch verflog und sie wurde wieder in den Strudel des realen Geschehens gezogen.

Stück für Stück zuckten all diese Momente, die sie für pure Einbildung gehalten hatte, wie ein Kurzfilm im Schnellvorlauf vor ihrem inneren Auge vorbei. Doch ein Bild war besonders deutlich und drängte sich immer wieder in den Vordergrund.

Es war der Moment gewesen, an dem sie sich vor 10 Jahren entschied, ihre Ausbildung zur Tanzpädagogin aufzugeben und ihren Beruf als Steuerfachgehilfin weiterzuführen. Die Ausbildung nahm sehr viel Zeit in Anspruch und die Aussichten, damit jemals ordentlich Geld zu verdienen, waren extrem gering. Selbst Profitänzerinnen mussten Nebenjobs annehmen, um ihr Leben einigermaßen finanzieren zu können. Und sie, Anna, war zwar eine leidenschaftliche Tänzerin, aber ansonsten nur eher durchschnittlich begabt.

An einem regnerischen Tag also, auf dem Heimweg eines anstrengenden Trainingstages, lief Anna durch den strömenden Regen nach Hause und in diesem völlig unspektakulären Moment, als sie um die letzte Straßenecke vor ihrer Wohnung bog, entschied sie, dass sie nun endgültig vernünftig werden und am nächsten Tag die Ausbildung kündigen würde. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte vor sich auf den Boden. In der riesigen Pfütze formten die aufprallenden Regentropfen wilde Wellen und spritzten das Wasser in kleinen Fontänen wieder nach oben… und doch sah sie es. Ganz deutlich. Es war Bastians Gesicht und es sah aus, als ob er weinte. Und er schien ihr die Hand entgegenzustrecken und sie sah die Verzweiflung in seinen flehenden Augen.

Der Moment erstreckte sich in eine kleine Ewigkeit und sie fühlte eine große Welle unbändiger Freude in sich aufsteigen… doch sie zögerte einen Augenblick zu lange und ein Radfahrer fuhr durch die Pfütze und zerstörte das Bild vor ihr.

„Pass doch auf!“ schrie sie ihm zornig und verzweifelt hinterher. Doch der Fahrradfahrer schüttelte nur den Kopf und fuhr einfach weiter. Was kümmerte ihn Anna, die da komisch herumstand und in eine Pfütze starrte.

Auf den wenigen Metern bis zum Haus liefen Tränen Annas Wangen hinab. Dann kam sie zu Hause an und versuchte, das ganze so schnell wie möglich zu vergessen. War sie denn verrückt geworden? Das Gefühl der Freude, das sie so intensiv und im ganzen Körper gespürt hatte, war längst verflogen und machte einem Gefühl von Scham Platz. Sie ging unter die Dusche und redete sich ein, dass das alles nur Einbildung gewesen war. Und das glaubte sie dann irgendwann auch. Bis heute.

Konnte es wirklich sein? War das real gewesen? War das hier real? Oder lag sie einfach nur im Sterben und ihr Gehirn spielte ihr wieder dumme Streiche? Bestimmt war es so. Sie sollte sich einfach… ja aber was? Von der Kälte übermannen lassen? Der Gedanke ließ sie erschaudern.

Und was, wenn auch nur die geringste Chance bestünde, dass ihr Bruder wirklich da war und sie mit ihm gehen konnte? Was, wenn er sie brauchte? Was, wenn das wirklich ihre letzte Chance war? Was hatte sie denn jetzt noch zu verlieren?

„Bastian?“

„Ja?“

„Sind all die Geschichten, die Du mir als Kind erzählt hast, wahr gewesen? Waren das nicht nur erfundene Märchen? Hast Du das alles wirklich erlebt?“

„Ja.“

„Gut.“ antwortet Anna und entscheidet sich. In diesem Moment überkommt sie eine fast feierliche Stimmung und sie wird innerlich ganz ruhig. Sie streckt die jetzt schon sehr kalte Hand nach vorne in die Richtung aus der Bastians Stimme kam, atmet noch einmal tief ein, schließt die Augen und sagt: „Dann lass uns gehen.“

 

 


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