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Etwa eine Stunde später kommt Anna an ihrem Ziel an.
Auf ihrem Weg dorthin wurde die Form langsam immer klarer. Zuerst konnte Anna erkennen, dass es sich um eine Art Pyramide handeln musste, denn die Form lief oben spitz zu. Allerdings war das keine graue Steinpyramide, wie sie sie aus ihren Geschichtsbüchern kannte, sondern diese Pyramide schimmerte in einem hellen Blau.
Als Anna immer nähergekommen war, konnte sie dann erkennen, dass nicht die Pyramide selbst blau war, sondern sich die Farbe des Himmels in der Oberfläche der Pyramide spiegelte. Sie war offensichtlich völlig aus Glas.
Doch eine Sache war seltsam. Je näher sie der Pyramide kam, desto kleiner wurde dieselbe. Eigentlich hätte das ja andersherum sein müssen, sie hätte also für Anna immer größer erscheinen müssen… wie hätte sie sonst die Pyramide von so weit weg sehen können?
Doch jetzt steht Anna vor dieser Pyramide aus Glas und sie ist kaum mehr größer als sie selbst. In einem Ring von ungefähr 4 bis 5 Metern um die Pyramide befinden sich keine Blumen mehr. Der Boden ist hier aus glattem, schwarzen Stein, der in der Sonne funkelt. Und während sie noch überlegt, ob sie die Steinfläche einfach so betreten soll, sieht sie es plötzlich.
Ein Zeichen, das sie überall erkannt hätte, weil sie es in so vielen von Bastians Geschichten schon „gesehen“ hatte. Er hatte es ihr jedes Mal – in jeder einzelnen Geschichte – so genau geschildert, als ob irgendwann ihr Leben davon abhängen würde, es wiederzuerkennen. Und sie hatte jedes einzelne Mal so deutlich ein Bild vor Augen gehabt, dass sie es ohne Probleme hätte aufmalen können, wenn Bastian sie darum gebeten hätte.
Es war in den Geschichten Bastians an solch unterschiedlichen Plätzen aufgetaucht, war an Wänden, auf Tischen, an Höhlenwänden aufgemalt gewesen und es hatte viele unterschiedliche Farben gehabt, doch eines war immer gleich:
Es waren zwei Schlangen in einem Rund, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen.
„Das ist das Zeichen Phantasiens!“ schießt es Anna durch den Kopf.
Diesmal ist das Symbol auf der großen, schwarzen, runden Steinfläche abgebildet und zwar so groß, dass es am Rand der Steinplatte entlangläuft und die Pyramide selbst komplett umschließt. Es sieht so aus, als hätte es jemand mit einem spitzen Gegenstand in den Stein geritzt, so dass es diesmal keine eigene Farbe besitzt, sondern man es eigentlich nur durch das Funkeln des Steins in der Sonne wahrnehmen kann. Deshalb war es ihr auch nicht gleich aufgefallen.
Anna starrt wie gebannt auf das Zeichen, das sie nun – nach so vielen Jahren – zum ersten Mal wirklich mit eigenen Augen sieht. Sie kann es kaum fassen. Bastian hatte wirklich die Wahrheit gesagt. Langsam geht sie um die schwarze Steinfläche herum, traut sich noch nicht, sie zu betreten. Sie wartet darauf, dass irgendetwas passiert, irgendetwas auftaucht… aber es geschieht nichts.
Als sie einmal fast ganz herumgelaufen ist, bleibt sie bei einem der beiden Schlangenköpfe stehen. Sie blickt auf die Glaspyramide in der Mitte des Steins, nimmt sich ein Herz… und steigt über den Schlangenkopf hinweg auf die schwarze Steinplatte. Im gleichen Moment, indem sie mit beiden Füßen auf der Steinplatte steht, verschwinden all die Blumen um sie herum, es wird dunkel und nur von der Glaspyramide aus erstrahlt plötzlich ein schimmerndes, golden glänzendes Licht.
Und in diesem Schimmerlicht erkennt sie, jeweils auf einer der beiden anderen Pyramidenseiten, ganz deutlich zwei Gesichter. Ihr Herz macht vor Glück einen Sprung! Es ist Bastian. Und die Kindliche Kaiserin von Phantasien.